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"Alter" oder "Alexandrinischer" Text


Die Bezeichnung “alter Text” verwende ich hier synonym zu “alexandrinische Textform”, um den Wortlaut zu bezeichnen, wie er uns vorwiegend in den ältesten erhaltenen Handschriften begegnet.


   Nachteile beider Bezeichnungen


Beide Bezeichnungen haben Nachteile: “Alter Text” legt die Vorstellung nahe, es handele sich um den Wortlaut, wie er in der Frühzeit dominierte - was wir nicht genau sagen können, da von der damaligen Gesamtheit nur wenige Zeugen erhalten sind; außerdem sind unter den ältesten Handschriften auch Zeugen des sog. “westlichen” Textes oder D-Textes, die einen abweichenden Wortlaut zeigen. “Alexandrinische Textform” suggeriert eine besondere Verbindung zu Alexandria, einem frühen Zentrum für Handschriftenarbeit - dies geht auf frühere Rezensionstheorien zurück, die teilweise überholt sind, zumal mittlerweile auch außerhalb des ägyptischen Raums entsprechende Zeugen gefunden wurden. Jedoch sind die Begriffe durch ihre Verwendung durch Metzger, Robinson etc. bis heute geläufig (Westcott-Hort unterscheiden zwischen dem "neutralen" Text von 01 03 und dem späteren "alexandrinischen", doch heute werden die Begriffe meist synonym benutzt). Da es demnach keine perfekte Begrifflichkeit gibt, benutze ich die vorhandene.


   Problem bei der Rekonstruktion: Individuallesarten


Der üblicherweise als “alt” oder “alexandrinisch” bezeichnete Wortlaut (also derjenige, der etwa durch Sinaiticus und Vaticanus bezeugt wird) muss nicht mit dem Urtext identisch sein, noch nicht einmal mit dem Text, wie er zu der Zeit vorherrschte, aus der die entsprechenden Handschriften stammen (4. Jh.). Denn praktisch jede Handschrift (egal welchen Typs und Alters) enthält individuelle Abweichungen vom Wortlaut ihrer Vorlage und somit auch vom Wortlaut des Texttyps, dem sie angehört (sei es durch Abschreibversehen, sei es durch bewusste Veränderung). Diese individuellen Abweichungen sind in den meisten Fällen Sonderlesarten, die nur von wenigen anderen Handschriften bezeugt werden (oder sogar Singulärlesarten, die von keiner anderen Quelle bezeugt sind), mit anderen Worten: Abweichungen vom sicheren Wortlaut, der an diesen Stellen von fast allen Handschriften und Textformen (alten und jungen) gemeinsam bezeugt wird, und als solche Abweichungen also eindeutige Fehler. Daher ist es nicht möglich, anhand einer einzigen Handschrift den Wortlaut einer Textform zu ermitteln, sondern es müssen zu diesem Zweck mehrere Handschriften dieses Typs miteinander verglichen werden, um die individuellen Lesarten der Einzelhandschriften auszuschließen und die eigentliche Lesart der betrachteten Textform zu erfassen (es wäre höchst subjektiv und unsicher, allein aufgrund von inneren Kriterien, ohne weitere Zeugen, einen Abschreibfehler zu korrigieren und Vermutungen über den Text der Vorlage anzustellen). 


   Problem bei der Rekonstruktion: Mangel an Zeugen


Unter diesen Umständen ist das Problem bei der Rekonstruktion des “alexandrinischen” oder “alten” Textes, dass in einigen Teilen des Neuen Testaments nicht genügend Repräsentanten dieser Textform erhalten sind, um den o.g. Vergleichsvorgang einigermaßen sicher durchführen zu können. Für das Matthäusevangelium beispielsweise haben wir nur zwei alte Vollhandschriften, Sinaiticus und Vaticanus. Wo diese differieren, können wir zwar ab Kapitel 18 Codex L als dritten alexandrinischen Zeugen für eine simple 2:1 Entscheidung verwenden (was durchaus unsicher ist), in den vorigen Kapiteln jedoch ist L byzantinischen Typs, so dass wir nur stellenweise auf kleine Fragmente (Papyri, Codex Z oder 0281) zurückgreifen können; denn auch in den Codizes A und C überwiegt in Mt der byz. Text, und die nichtbyz. Minuskeln 33 892 1582 bieten nur gemischten Text. Es bleiben hier also viele Passagen, wo im Falle einer Differenz zwischen Sinaiticus und Vaticanus kein weiterer "alexandrinischer" Zeuge vorhanden ist und somit nur eine Entscheidung aufgrund “innerer Kriterien” möglich wäre, die entsprechend subjektiv und unsicher ist (daher gehen an solchen Stellen auch die NT-Editionen auseinander: Tischendorf versus Westcott-Hort etc.). Das biblische Prinzip, dass jede Sache auf dem Fundament von zwei oder drei Zeugen basieren solle (5. Mose 19,15; Mt 18,16; 2. Kor 13,1), ist für Entscheidungen unter solchen Bedinungen nicht erfüllt.


   Gegen die Überbewertung alter Zeugen und des Schemas “alex.-byz.”


Selbst wenn man davon ausgehen könnte, dass der alte oder alexandrinische Text in allen Fällen eine bessere Annäherung an den Urtext darstellte als der Mehrheitstext, würden wir doch auf das Problem stoßen, dass uns der Wortlaut jenes Textes nicht vollständig zugänglich ist, weil die Anzahl der erhaltenen Zeugen zu gering für eine sichere Rekonstruktion ist (s.o.). Wo eine einzelne alte Handschrift (z.B. Sinaiticus) von der Mehrheit der Handschriften abweicht, wissen wir noch nicht, ob dies die generelle Lesart der alexandrinischen bzw. alten Textform oder nur eine individuelle Lesart (d.h. ein Fehler) dieser Einzelhandschrift ist. Es scheint aber auch Stellen zu geben, wo tatsächlich alle alexandrinischen Zeugen gemeinsam eine falsche Lesart bieten, z.B. der Zusatz in Mt 27,49 (am Ende des Verses wird hinzugefügt, was in Joh 19,34 berichtet ist, was aber in dieser Lesart in Mt eine falsche Reihenfolge darstellen würde). Daraus kann und sollte man den Schluss ziehen, dass die alexandrinische Textform für sich allein irren kann und durch andere Textformen kontrolliert werden muss.


   Gegen die Vernachlässigung alter Zeugen und des Schemas "alex.-byz."


Auf der anderen Seite kann das Zeugnis der alten Codizes keinesfalls ignoriert werden, und es ist in manchen Teilen des NT auch zahlenmäßig stark genug, um den Text eines alten oder alexandrinischen Textes mit ausreichender Sicherheit ermitteln zu können. So ist etwa in den Briefen an den Stellen, wo der Mehrheitstext von NA abweicht, an vielen Stellen die Anzahl der Zeugen für beide Textformen fast gleich stark, wenn man sich auf die ersten zehn Jahrhunderte konzentriert. Denn die Anzahl der byzantinischen Handschriften ist in diesen Teilen des NT geringer, und die Anzahl der Handschriften, die den alexandrinischen Text bezeugen, etwas höher. Dort können also in der Regel die Lesarten für beide Textformen recht sicher angegeben werden.


   Fazit: Die ältesten Handschriften beachten, aber nicht überbewerten


Im Endeffekt müssen wir uns vor Schematisierungen hüten, denn die Überlieferung des NT ist in verschiedenen Schriften des NT unterschiedlich ausgeprägt, was den Anteil der Textformen und die Anzahl ihrer Handschriften betrifft. Fazit: Das Zeugnis der alten Codizes und die von ihnen bezeugte Textform ist nicht leichtfertig zu verwerfen, sondern durchaus zu beachten und zu wertschätzen (z.B. auch da, wo die Überlieferung des Mehrheitstextes gespalten liest). Der Wortlaut dieser Textform kann aber nicht überall mit gleicher Sicherheit festgestellt werden und führt auch nicht immer zum Urtext, besonders wenn er nicht durch Zeugen anderer Überlieferungslinien unterstützt wird. Es war daher im Prinzip ein guter Ansatz, dass von Soden der Textform "H" dort nicht gefolgt ist, wo ihre Lesart nicht wenigstens durch "I" oder durch "K" unterstützt wird (auch wenn seine Edition aus verschiedenen Gründen nicht gut angesehen ist).


   Zur Herstellung des Wortlauts der alexandrinischen Textform


Das führt uns zur Frage: Wo genau haben wir den Text dieser alexandrinischen Textform vor uns? Oder wie können wir ihn ermitteln? Um einer Antwort auf diese Fragen näher zu kommen, hier zunächst ein Blick in die Geschichte.


   Tischendorf, Westcott-Hort und Nestle


Am Ende des 19. Jh. dominierten zwei große Editionen, die auf dem alexandrinischen Texttyp basierten: Die große Ausgabe von Tischendorf, der den Sinaiticus bevorzugte, und die Ausgabe von Westcott und Hort, die den Vaticanus bevorzugten. Daher gibt es auch einige Differenzen zwischen den Wortlauten dieser Editionen. Nun kam Eberhard Nestle auf die Idee, die beiden Ausgaben zu vergleichen und ihren Konsens zu übernehmen, dort aber, wo sie divergierten, eine dritte Ausgabe zur Entscheidung heranzuziehen. Dadurch ergab sich ein relativ ausgewogener Text, da er die manchmal extremen Entscheidungen von Ti einerseits und WH andererseits überwand. Dieser Vorzug begründete u.a. den anschließenden Erfolg dieses Nestle-Textes, der bald weithin für die Übersetzungen des Neuen Testaments benutzt wurde.


   Editorische Entscheidungen oder Priorität der Handschriften?


Doch spätere Generationen arbeiteten an dem Text weiter, und mit späteren Auflagen des Nestle-Alands wurde das ursprüngliche Nestle-Prinzip (Mehrheitsentscheid kritischer Editionen) zunehmend verlassen,  zugunsten von bestimmten Lesarten, die von den Herausgebern als ursprünglich vermutet wurden. Darüberhinaus beginnt ab der 28. Auflage eine neue Methode in die Textkonstitution einzudringen: die Kohärenzbasierte Genealogische Methode. Es ist zu beobachten, dass aufgrund dieser Entwicklungen der resultierende Text keine genaue Wiedergabe der alexandrinischen Textform mehr darstellt, denn an manchen Stellen wurde er zum byzantinischen Text hin geändert, an anderen Stellen zu schwach bezeugten Lesarten von Einzelhandschriften, an einer Stelle sogar zu einer Lesart ohne irgendeinen griechischen Zeugen (2. Petrus 3,10 in ECM und NA28). Man kann über die Änderungen diskutieren und darüber verschiedener Meinung sein, aber der resultierende Text stellt unter diesen Umständen eine bestimmte Richtung (oder Meinung) dar und besitzt insofern nicht mehr die oben beschriebene Ausgewogenheit und Neutralität des ursprünglichen Nestle-Ansatzes.


   Standardtext und alternative Editionen


Dennoch wird der NA-Text, zusammen mit dem gleichlautenden GNT der United Bible Societies, in vielen Kreisen quasi als einzig möglicher Standardtext angesehen oder einfach mit dem alexandrinischen Text gleichgesetzt. Diese hohe Bewertung ist nicht völlig unproblematisch, zum einen weil der edierte Text auch von seinen Herausgebern her im Entwicklungsprozess ist und sich im Laufe seiner Auflagen ändert (gegenwärtig im Kontext der fortschreitenden Erstellung der ECM), zum anderen weil an etlichen Stellen auch andere Entscheidungen möglich sind. Um Alternativen zu schaffen, sind in jüngster Zeit Bemühungen entstanden, unabhängig von NA einen auf den alten Hss. basierenden Wortlaut zu erstellen (SBL, Tyndale House). Daneben sind natürlich auch die Editionen des 19. Jh. (vor allem Tregelles, Tischendorf, Westcott-Hort) zu beachten, sowie weitere Textfassungen, z.B. die Ausgabe des Concordant Greek Text (basierend auf Sin., Alex., Vat.) sowie diejenige von H. von Soden (basierend auf seinen Textformen H, I, K).


   Vergleichende Ermittlung der alexandrinischen Textform


Angesichts dieser Situation soll an dieser Stelle schrittweise ein Wortlaut ermittelt werden, der solche Editionen miteinander und mit den ältesten Handschriften vergleicht und an den divergierenden Stellen einen kurzen Apparat bietet, um mögliche Schwachpunkte einzelner Ausgaben zu beleuchten (idealerweise: zu überwinden), sowie schwierige Stellen, die sich einer Klärung widersetzen, zur Diskussion zu stellen. Ein Entwurf für die ersten Kapitel des NT folgt hier als PDF, indem die Texte von Tischendorf, Westcott-Hort, von Soden, Nestle-Aland und Tyndale House miteinander und mit den Codizes 01, 02, 03 verglichen werden.


Matthäus 1-2: